Auch, wenn die sportliche Situation momentan kaum Gedanken an den internationalen Wettbewerb zulässt, ist es uns trotzdem ein Anliegen, einen Rückblick auf die Initiative zu geben, nicht zuletzt um zu verhindern, dass die angeprangerten Missstände angesichts der momentanen Krise aus den Köpfen verschwinden, aber auch, um gewisse Erkenntnisse bzw. Lernprozesse, die wir aus dem Boykott ziehen, zu kommunizieren.
Selbstkritisch müssen wir zunächst betonen, dass die Bekanntgabe unserer Entscheidung, die CL-Spiele zu boykottieren, relativ spät geschah. Umso mehr überraschte uns die Dynamik, die die ganze Sache innerhalb von kürzester Zeit annahm. Die anderen Gruppen schlossen sich an, selbst in der Anonymität des Internets wurde der Initiative einiges an Verständnis und Sympathie entgegengebracht und sogar die Presse berichtete wohlwollend über unser Fernbleiben, wobei wir das Medieninteresse mit einer etwas verbesserten Informationspolitik vielleicht noch effektiver hätten nutzen können. All dies bestätigte uns darin, dass die Dringlichkeit der Thematik auch weit über die Grenzen unserer Gruppe gesehen wird. Gleichzeitig konnte festgestellt werden, dass der so häufig vorgekommene Mechanismus der Marginalisierung und Vorverurteilung der Ultraszene in der weiteren Öffentlichkeit, in diesem Fall nicht eintrat. Dieser Umstand kann als ein wirklicher Lichtblick gesehen werden, zuallererst für die Moral, der ansonsten so gebeutelten AktivistInnenseele. Denn in diesem Fall mussten keine verzerrten Darstellungen bis hin zu vorsätzlich wirkenden Verleumdungen ertragen werden und sich dementsprechend ausnahmsweise mal nicht machtlos einer reflexartig negativen Berichterstattung ausgesetzt werden. Die einzigen irritierenden Kommentare, äußerten eigtl. die Vereinsoffiziellen, dazu aber später mehr. Ableiten lässt sich von den Vorgängen nach der Bekanntgabe des Boykotts zudem die Einsicht, dass über geschickte Kommunikation, gerade den Medien gegenüber, doch einiges an Interessenpolitik betrieben werden kann und es durchaus zusätzliche Kanäle gibt, die wir zu unserem Vorteil nutzen können. Der kategorische Ausschluss mit den Medien zusammenzuarbeiten hat sich somit für uns wohl endgültig als kontraproduktiv herausgestellt.
An den CL-Spieltagen nicht ins Stadion zu gehen, war für die meisten von uns sicherlich nur sehr schwer zu ertragen. Stattdessen wurde sich zusammengefunden, um die Spiele gemeinsam auf Leinwand zu verfolgen. Einzelpersonen gingen trotzdem ins Stadion und machten jeweils über Transpis auf den Boykott aufmerksam. Auch an diesem Punkt kann selbstkritisch eingesehen werden, dass evtl. auf etwas kreativere oder eindrucksvollere Weise auf unseren Boykott hätte hingewiesen werden können, denn nach dem ersten Gruppenspiel, verringerte sich die Präsenz der Thematik in der Öffentlichkeit, ein Umstand, den wir mit Sicherheit hätten besser kompensieren können.
Trotz allem, kann gesagt werden, dass unser Fernbleiben für das Stadionpublikum deutlich spürbar war, was vor allem „normale“ Kurvenbesucher_innen immer wieder bestätigten. Abgesehen von der hauptsächlichen Preisthematik konnte hier auch deutlich gemacht werden, dass wir uns sicherlich nicht als dauerpräsenten Stimmungsdienstleister verstehen, dessen Anwesenheit vom Rest der Kurve bzw. des Stadions erwartet oder eingefordert werden kann.
Unsere Zuneigung zu Werder ist durch den Boykott sicherlich nicht relativierbar, auch wenn einige InternetkommentatorInnen, aber auch Werder-Fans in direktem Gespräch, versuchten, genau dies zu tun. Ganz im Gegenteil zeigten wir einer größeren Öffentlichkeit, dass unsere dauerhafte und nachhaltige Präsenz als Gruppe im Stadion, auf einigen unumstößlichen Werten basiert, die eben diese, ansonsten festzustellende, Regelmäßigkeit, erst möglich macht. Gemeint ist der solidarische Umgang miteinander. Umstände, in denen Heimspiele nur noch von den finanzstärkeren Mitgliedern besucht werden können, machen das Auftreten als Gruppe und das Ausleben unserer Zuneigung zu Werder auf die gewohnte Art und Weise prinzipiell unmöglich.
Deswegen können Äußerungen, die uns „schäbiges Verhalten“ gegenüber der Mannschaft vorwarfen oder auch Klaus Allofs‘ verkürzte Aussagen, als hilflose Versuche verstanden werden, uns den Wind aus den Segeln zu nehmen, anstatt evtl. zuzugeben, dass in der Preisgestaltung entscheidende Fehler gemacht wurden, bzw., dass es den Vorstand nicht kümmert, ob sozial schwächere Fans, das Saisonhighlight Champions League im Stadion miterleben können oder nicht.
Unumstößlich, trotz aller Relativierungsversuche, bleibt der Umstand, dass der Vorstand ihrem Label der „sozialen Verantwortung“ in diesem entscheidenden Fall nicht gerecht wurde.
In diesem Zusammenhang, wäre es fast wünschenswert, dass die sportliche Talfahrt weitergeht. Es wäre interessant zu sehen, wie sich die Rethorik des Vorstandes, gerade eines Klaus Allofs, verändern würde und wie die in den letzten Jahren entstandene Überheblichkeit, vielleicht wieder etwas mehr Bodenständigkeit und realistischer Einschätzung der Bedingungen in Bremen weichen würde.
Denn sich in fanpolitischen Fragen und Beurteilungen, auf eine Rekordzahl an nicht stimmberechtigten Fördermitgliedern oder dem regelmäßig ausverkauften Weserstadion bzw. den Auswärtsblöcken zu verlassen und damit aus ökonomischer Perspektive, eine unerschöpfliche Nachfrage nach dem Produkt Werder zu unterstellen, ist äußerst gewagt. Verflüchtigt sich nämlich der beispiellose Werder-Hype der letzten Jahre, wird sich zeigen, inwiefern die neue Kundschaft , auf die der Vorstand zu bauen scheint, präsent bleibt. Wir erleben bereits nach einer miserablen Hinrunde Tendenzen, die darauf schließen lassen, dass diese Rechnung nicht aufgehen wird. Die Unbeständigkeit des neuen Umfelds schlägt sich zwar noch nicht unbedingt in sinkenden Zuschauerzahlen nieder, trotzdem konnten wir bereits erleben, wie formschwache Spieler den unbedingten Anspruch großer Teile der Zuschauer_innen auf gute Leistung zu spüren bekamen. In Erinnerung bleibt auch das gellende Pfeifkonzert zur Halbzeit im Spiel gegen Mainz, beim Stand von 0:0 wohlgemerkt, gegen einen Gegner, der diese Saison sicherlich nicht zu den einfachsten zählt. Kredit, für die vergangenen Jahre, scheint sich die Mannschaft bei großen Teilen der neuen Kundschaft nicht erspielt zu haben. Diese Mentalität ist definitiv verschieden von einer motzenden Haupttribüne aus älteren Zeiten. Die große Nachfrage nach der Mannschaft konstituiert sich nicht aus neuen Fanscharen, sondern aus einem Publikum, dass den Zauber, der von Werders Spiel überwiegend ausging, aus nächster Nähe konsumieren will und sich ansonsten zu keinerlei Loyalität verpflichtet sieht.
Die Erhöhung der Dauerkartenpreise auf den Tribünen, vor der aktuellen Spielzeit hat bereits dazu geführt, dass viele alteingesessene Werder Fans ihre Abos abgetreten haben. Es bleibt abzuwarten, inwiefern sich Tendenzen dieser Art nach einer erfolglosen Saison 2010/2011 entwickeln würden. Sollte sie eine positive Wendung nehmen, kann stark davon ausgegangen werden, dass die Preise weiter angezogen werden.
Fakt ist, dass momentan, trotz neuer Fanabteilung und anderer Absichtserklärungen, bestimmten Teilen der ZuschauerInnen keine besondere Wertschätzung entgegengebracht wird. Der/die Stadionbesucher/in wird als beliebig austauschbar betrachtet.
Vor diesem Hintergrund ist auch der Umstand zu verstehen, dass es außer den öffentlichen Stellungnahmen, keinerlei Reaktion des Vorstandes auf unser Anliegen gab, obwohl klar geworden sein sollte, dass es sich dabei nicht um ein ultraspezifisches Problem handelt. Prinzipiell besteht der Boykottzustand also nach wie vor. Es bleibt abzuwarten, wann er wieder praktisch eine Rolle spielen wird.
Infamous Youth