Der Videobeweis
Standen wir schon zur Einführung dem Videobeweis zumindest skeptisch, zum überwiegenden Teil aber stark ablehnend gegenüber, erweiterte sich die grundlegende Kritik der letzten Wochen und Monate nun zusätzlich um eine stark emotionale Komponente eigener Betroffenheit.
Ein kurzer Rückblick
Nach „nur“ einem Punkt aus den letzten beiden Spielen, bei gleichzeitiger Aufholjagd von Schlusslicht Köln, wurde die Luft zu den direkten Abstiegsplätzen dünner und der Abstand aufs rettende Ufer größer. Hatten wohl nur die Wenigsten mit einem Punktegewinn gegen die Bayern die Woche zuvor gerechnet, kam mit der Hertha nun eine Mannschaft ins Weserstadion, die angesichts der eigenen Leistungen in den Vorwochen definitiv als „schlagbar“ galt. Köln und der HSV hatten am Nachmittag schon gepunktet, der Druck wuchs und nichts Anderes als ein Heimsieg musste her.
Werder begann dementsprechend druckvoll, lief Sturm aufs Hertha-Tor, kam zu Chancen, ging dementsprechend folgerichtig und zeitig in Führung. Maxi Eggesteins Treffer zum 1:0 sorgte für die erste Heimführung seit gefühlten Ewigkeiten und ließ den Jubel entsprechend heftig ausfallen. Für einen kurzen Augenblick fiel spürbar der Druck der letzten Wochen von vielen Schultern ab und man erlebte die Art kollektiver Jubelekstase, dessen Versuch wortvoller Umschreibung nur misslingen kann. Kurze Zeit später der Schock: „Scheiss Videobeweis!“ Hatten es die Leute vorm TV oder den Sitzplätzen vielleicht schon vorher vernommen, dauerte es wiederum eine gefühlte Ewigkeit bis es uns unten auf den Stehplätzen erreichte. Die Phase des Bangens fing an, die Hertha-Fans skandierten (angenehm solidarisch) schon einmal gegen die Fußballmafia des DFB‘s und viele fühlten sich angesichts der Jubelorgie zuvor sicherlich wie die letzten Trottel. Das Tor wurde bekanntlich nicht gegeben und das Weserstadion ließ seinem Frust gegen den DFB in einer Lautstärke freien Lauf, die an diesem Tage zu keinem weiteren Zeitpunkt mehr erreicht werden konnte. Letztendlich konnte, trotz zahlreicher weiterer Gelegenheiten, das Spiel nicht gewonnen werden und es blieb beim Unentschieden. Im Nachgang behaupteten die renommierten Sportredaktionen, dass die Nicht-Anerkennung des Treffers durchaus dem aktuellen Regelwerk entspreche. Ob hier die Schiedsrichter einfach nur das Projekt Videobeweis schützen wollten oder doch die eigene Unsicherheit bezüglich der Problematik so am einfachsten versteckt werden sollte, ist im Grunde nur zweitrangig von Interesse. Fakt ist, dass es keine einheitlichen Regularien gibt. Der NDR-„Sportclub“ ersparte sich eine Positionierung hierzu und ließ lediglich Junuzovic am Videobeweis rummeckern. Ob unkritischer DFB-Konformismus oder journalistisches Neutralitätsgebot, immerhin bekam so noch die grundlegende Kritik ein wenig Sendezeit. Allgemein ist die Debatte um den Videobeweis natürlich in vollem Gange. Die Positionen reichen von radikalen Fairness-Rittern (Pro), sachten Liberalreformern (Pro, aber nicht in aktueller Ausprägung) bis hin zu den Fußballromantikern (Contra), denen eine generelle reaktionäre Grundhaltung gerne mal nachgesagt wird.
Aus Gründen für die absolute Abschaffung
Das eben genannte Beispiel Eggesteins veranschaulicht, warum nur eine Abschaffung des Videohinweises in Gänze in Frage kommen kann. Allen voran wird der Fußball um seine spontane Reaktion und somit auch Emotion beraubt. Es ist so offen wie eindeutig: Hier wird ein Prozess vorangetrieben, der enthemmtes Jubeln aussterben lässt. Ein schrittweiser Jubel, der sich erst nach genaustem Studieren der Schiedsrichtergestik langsam und sukzessiv aufbaut, sollte aber nicht zur Regel werden. Die, im Vergleich hierzu, herrlich eindeutige Abseitsgestik durch die Fahnen der Linienrichter steht hierbei in keinerlei Verhältnis zu der minutenlang andauernden Warterei, welche der Videobeweis mit sich bringt und die Nerven der Fans unnötig strapaziert. Auch die Einführung der sog. Torlinientechnik erscheint in diesem Vergleich als durchaus sinnvoll, strapaziert sie im Gegensatz zum Videobeweis nicht die Nerven ins Unendliche, raubt dem Fußball nicht eben besagte spontane Emotionalität, die ihn letztendlich ein Stück weit ausmacht.
Zudem wird die ursprünglich erdachte Herstellung von Gleichheit und Gerechtigkeit im Fußball momentan und Woche für Woche zunehmend als nett gemeinte Utopie entlarvt. Der Versuch nach krampfhafter Professionalisierung dieses Sports entpuppt sich mehr und mehr als Pseudo-Unterfangen, das auf der Suche nach Gerechtigkeit (die es in diesem Sport sowieso nicht geben wird) genau zu Gegenteiligem führt. Die Menschen, die an dem Bildschirmen entscheiden, machen immer noch die gleichen Fehler und überhaupt bleibt die Frage, wann dieser „Beweis“ zur Anwendung gelangen sollte, umstritten. Eggesteins Treffer war beispielsweise ein „klares“ Foul von Delaney an einem Herthaner vorangegangen, welches sich allerdings vier oder fünf Stationen vor dem eigentlichen Torabschluss ereignet hatte. De facto besteht hingegen keine Einigung darüber, inwieweit man in einem Spiel zurückgehen kann, um ein Foul zu ahnden, welches ohne den Videobeweis für die Entscheidung, Tor ja oder nein, ansonsten niemals irgendeine Form von Relevanz erlangt hätte. Es zeigt das Grunddilemma: Die Regeln, wann der Videoreferee eingreifen soll, bleiben Ansichtssache, führen weder zu Rechtssicherheit noch zu einem Rechtsfrieden, haben die Gemengelage lediglich erschwert. War der Ellenbogencheck Delaneys hier eine „glasklare Fehlentscheidung“ oder doch im Gerangel des schnelllebigen Zweikampfs übersehbar? Wahrscheinlich: Ansichtssache. Ein anderes und weniger charmantes Wort hierfür lautet: Willkür. Der Videobeweis wird so zum Videohinweis. Das Beispiel des nicht gegebenen Tores gegen die Hertha nur eines von vielen. Auf manchen Plätzen kommt der Videohinweis zum Einsatz, auf manchen nicht. Und all das oftmals innerhalb nur eines Spieltags.
Und allgemein wird auch die Ursprungsidee, die Videoschiedsrichter als ein im Hintergrund laufendes Korrektiv einzusetzen, mangels einheitlicher Regeln und klar definierter Ausführungsstandards jeden Spieltag aufs Neue torpediert. Mal legitimieren sich diese selbst zum Eingriff, mal verlangen die überforderten Schiedsrichter nach ihnen. Die Ursprungsintention der Einführung, den Schiedsrichtern durch die Video-Einführung zu mehr Autorität zu verhelfen, ist – so viel lässt sich jetzt schon sagen – krachend gescheitert. Es hinkt an so vielen Stellen, dass alles Andere, als die sofortige Wiederabschaffung nach Ablauf der klar missglückten Testphase, nicht in Frage kommen kann. So wird es im Fußball nie die absolute Rechtssicherheit geben, solange Menschen an ihm beteiligt sind. Einheitliche Ausführungsstandards können aufgrund geschilderter subjektiver Wahrnehmungen und unterschiedlicher Auslegungen nicht entstehen. Ein Problem wird verlagert und nicht verbessert. Kritisierten wir den Videobeweis schon vorher, erfuhren wir alle seine Nachteile nun auch am eigenen Leib. Auf eine eventuelle Bevorteilung in den kommenden Spielen kann somit gerne verzichtet werden. Was bleibt also?
Fazit und Aufruf
Es bleibt die Feststellung, dass die Testphase des angeblichen Beweises gescheitert ist. Daher fordern wir die Abschaffung des Videobeweises in Gänze, ohne wenn und aber oder Reformen! Lasst uns am kommenden Sonntag beim Wolfsburg-Heimspiel gemeinsam zeigen, was wir von vermeintlichen Fortschritten wie diesem halten. Daher rufen wir alle Werderfans auf, mit Hilfe von Bannern und Ähnlichem der Außenwelt zu zeigen, was wir von der angeblichen Verbesserung halten. Der kommende Spieltag soll somit ein Aktionstag gegen den Videobeweis werden.
Ob Fanclub, unorganisierter Fan, oder Ultrà: Werdet kreativ und aktiv, auf eure individuelle Art und Weise – Videobeweis abschaffen!
Infamous Youth ’05, Februar 2018